Die Entstehungsgeschichte

Seit 1995 befasst sich der Dietrich-Bonhoeffer-Verein (dbv) mit der Kirchensteuerfrage. Die ursprüngliche Überlegung war es, in Deutschland - ähnlich wie in Italien und Spanien - eine Art "Kultursteuer" einzuführen, d. h. die Kirchenfinanzierung in eine gesamtgesellschaftliche "Gemeinwohlfinanzierung" zu integrieren und so die traditionelle Kirchensteuer abzulösen (Ein-Säulen-Modell).

1998 wurde für diesen Themenbereich eine Arbeitsgruppe "Gemeinwohlfinanzierung" eingerichtet, der nicht nur Mitglieder des dbv, sondern auch Vertreter von Bürgerrechtsorganisationen, politischen Parteien sowie Fachvertreter der Juristerei und des Steuerrechts angehören. Die Diskussion des Kultursteuer-Modells hat seine Schwächen sichtbar werden lassen. Die Suche nach einer sinnvollen Modifikation des Kultursteuer-Modells, die sowohl mit den Demokratiestandards unserer Gesellschaft als auch mit dem theologischen Selbstverständnis von Kirche kompatibel ist, musste fortgesetzt werden.

Es wurde das Zwei-Säulen-Modell des dbv konzipiert. Es war ein Modell "Für mehr Demokratie und bürgerschaftliches Engagement - Für eine Kirchenfinanzierung ohne den staatlichen Zwangseinzug". Das Reformmodell - es wurde in dem Buch "Abschied von der Kirchensteuer", 176 Seiten, Publik-Forum Verlag 2002 veröffentlicht - bestand aus zwei Elementen:

  • Der staatliche Zwangseinzug der Kirchensteuer wird beendet. Die Kirchensteuer wird von den Kirchen selbst eingezogen.
  • Der Staat entwickelt mit dem Bürgerguthaben eine neue Form der Gemeinwohlfinanzierung, die nicht nur den Kirchen, sondern allen kulturellen, sozialen und gemeinnützigen Einrichtungen in der Gesellschaft zugute kommt.

Die Diskussion in der Arbeitsgruppe des dbv - die Arbeitsgruppe nennt sich seit dem Jahr 2006 "Kirche gestalten - Ordnung und Finanzierung von Kirche" - blieb nicht beim Zwei-Säulen-Modell stehen, sondern entwickelte sich in den folgenden Jahren weiter zum Drei-Säulen-Modell. Die Elemente des Drei Säulen-Modells sind folgende:

  • 1. Säule: Kollekten und Spenden (freiwillige Gaben) Kollekten und Spenden beinhalten die in der Entstehungsgeschichte des Christentums ursprüngliche Form der Kirchenfinanzierung. Sie entsprechen am besten dem Wesen von Glauben, Gemeinde und Kirche und werden deswegen vorangestellt. Die beiden einzigen Elemente des bisherigen Zwei-Säulen-Modells werden nunmehr zur 2. und 3. Säule.
  • 2. Säule: Gemeindebeiträge (verpflichtende Beiträge) Das Zwei-Säulen-Modell hielt noch an der Kirchensteuer fest (wenn auch die Kirchensteuer nicht mehr vom Staat, sondern von den Kirchen selbst eingezogen werden sollte). Im Drei-Säulen-Modell wird die Kirchensteuer schrittweise von einem Gemeindebeitrag abgelöst. Mit "schrittweise" ist gemeint, dass die Umstellung in zwei Reformschritten erfolgen soll.
    a)° In einem ersten Reformschritt wird der Gemeindebeitrag als Wahlalternative zur Kirchensteuer angeboten. Der Umstieg von der Kirchensteuer zum Gemeindebeitrag erfolgt durch eine Willenserklärung des Kirchensteuerpflichtigen.1
    b)°In einem zweiten Reformschritt wird der Gemeindebeitrag für alle Kirchenmitglieder verpflichtend gemacht. Erst mit dem zweiten Reformschritt wird die Kirchensteuer in der bisherigen Form ganz abge-schafft.
  • 3. Säule: Bürgergutscheine (aus Bürgerhaushalt)
    Zu den Reformüberlegungen des dbv gehört es seit jeher, dass die Kirchen in die gesamtgesellschaftliche Gemeinwohlfinanzierung integriert bleiben (einerseits sollte diese Gemeinwohlfinanzierung, an der die Kirchen genauso wie ungezählte andere gemeinnützige Einrichtungen partizipieren, durch die Neueinführung von Bürgerguthaben bzw. Bürgergutscheinen verbessert werden, andererseits sollten alle darüber hinausgehenden Sonderprivilegien der Kirchen gestrichen werden). Das Zwei-Säulen-Modell nannte das zum Modell gehörende Element der Gemeinwohlfinanzierung „Bürgerguthaben“.2 Im Drei-Säulen-Modell wird dieses Element zu den „Bürgergutscheinen“ weiterentwickelt.3 Die „Bürgergutscheine“ sind praktischer zu handhaben als die „Bürgerguthaben“ und schaffen besser direkten Kontakt der Bürgerinnen und Bürger mit den von ihnen unterstützten kirchlichen und gemeinnützigen Einrichtungen.


Das Drei-Säulen-Modell wurde ergänzt um eine Präambel mit den Grundsätzen, auf denen die Reformideen basieren. Sie sind gewissermaßen das Fundament, auf das sich die drei Säulen stützen. Die Grundsätze sollen zeigen, wie wichtig es uns ist, dass die Kirchenfinanzierung dem Wesen einer freien, d. h. von staatlichem Zwang unabhängigen Kirche, die „für andere da ist“, entspricht und dass die Taufe nicht für die Zugehörigkeit zu einer Kirchenorganisation im Status einer „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ und damit für kirchensteuerliche Verpflichtungen missbraucht werden darf.4 Die von uns angestrebte Kirchenreform erfordert ein Umdenken und einen Mentalitätswandel aller, die in der kirchlichen Arbeit ehrenamtlich oder hauptamtlich engagiert sind.

Um das Bild zu vervollständigen, wurden schließlich auch die sonstigen Einnahmen der Kirchen sowie der Sonderfall der auf die Säkularisation 1803 zurückzuführenden Staatsleistungen an die Kirchen in das Drei-Säulen-Modell aufgenommen.

Anlässlich des 2. Ökumenischen Kirchentags in München vom 12.-16. Mai 2010 hat der dbv das Drei-Säulen-Modell der Öffentlichkeit vorgestellt. Das Reformmodell und damit zusammenhängende Texte wurden veröffentlicht in der Broschüre: Taufe, Kirchensteuer, Mitgliedschaft und Gemeindeleben – Texte zur Kirchenreform, zusammengestellt von Axel Denecke und Karl Martin, Fenestra-Verlag 2010.

1Der AG „Kirche gestalten“ war stets bewusst gewesen, dass die Umstellung von der Kirchensteuer zum Gemeindebeitrag die jetzigen Reformmöglichkeiten der Kirche weit überfordern würde. Die AG überlegte deswegen eine Zeit lang, wie man in Zwischenschritte portionierte Übergänge organisieren könne. Bei der Suche nach solchen Zwischenschritten kam es erst im Jahr 2012 zum Durchbruch. In der Sitzung der AG „Kirche gestalten“ am 2. Juli 2012 wurde beschlossen, die Umstellung in zwei Schritten zu konzipieren. Als erster Reformschritt wurde der Gemeindebeitrag als Wahlalternative zur Kirchensteuer in das Modell aufgenommen. Der Gedanke, in einem ersten Schritt Kirchensteuer und Gemeindebeitrag als Wahlalternative nebeneinander zu stellen, stammt aus den Diskussionen in der DDR während der Wendezeit, als das westdeutsche Kirchensteuersystem auch in den Neuen Bundesländern eingeführt werden sollte und man nach Wegen suchte, denen, die das Kirchensteuersystem ablehnen, eine Alternative anzubieten. Im Rahmen der Arbeit des dbv wurde diese Anregung das erste Mal aufgegriffen in dem Papier „Evangelische Kirche im 21. Jahrhundert – Von der ’Kirche der Freiheit’ zur Freiheit der Kirche“, das als Kirchenfinanzierung vorschlug „Geldzuwendungen an die Gemeinde, entweder staatlich eingezogen (Kirchensteuer) oder der Gemeinde direkt ausgehändigt“ (Zeitschrift „Verantwortung“ 48/2011, Seite 17).
2Hinter dem Vorschlag „Bürgerguthaben“ stand folgende Idee: Alle einkommensteuerpflichtigen Bürgerinnen und Bürger sollten einen Teil ihrer zu zahlenden Einkommensteuer als Bürgerguthaben vom Finanzamt gutgeschrieben bekommen. Über dieses Bürgerguthaben sollten sie zugunsten von kirchlichen und/oder gemeinnützlichen Vereinigungen verfügen können.
3Die Weiterentwicklung der „Bürgerguthaben“ zu den „Bürgergutscheinen“ geht auf eine Idee des Aktionskreises Halle (AKH) zurück. Der AKH brachte den Vorschlag in die Diskussion: Wahlberechtigte Bürgerinnen und Bürger sollten das Recht bekommen, über einen Teil des Bundeshaushalts – den sogenannten „Bürgerhaushalt“ – zugunsten von kirchlichen und/oder gemeinnützigen Zwecken zu verfügen. Die Bürgerinnen sollten ihr Verfügungsrecht durch Abgabe ihrer Stimme gleichzeitig mit der Bundestageswahl ausüben. Jede Stimme sollte das gleiche Gewicht haben, so wie es auch bei der 8-Promille-Zuweisung an die Religionsgesellschaften in Italien der Fall ist. Die Verteilung der Haushaltsmittel würde bis zur nächsten Bundestagswahl entsprechend den abgegebenen Stimmen durch das Finanzamt erfolgen. Damit würden auch Nicht-Steuerpflichtige die Möglichkeit haben, an der Kirchen- und Gemeinwohlfinanzierung durch öffentliche Mittel teilzuhaben. Der AG „Kirche gestalten“ erschien diese Idee zwar willkommen, in der Durchführung aber nicht praktikabel. Eine Abstimmung über die Verteilung eines Bürgerhaushalts parallel zur Bundestagswahl wird sich kaum durchsetzen lassen. Eine Fortschreibung der Verteilung auf 4 Jahre erscheint auch nicht geeignet, da gemeinnützige Einrichtungen inzwischen aufgelöst und neue gegründet worden sein können. Die AG hat sich deshalb nach langer Diskussion für die jetzt in der dritten Säule dargestellte Variante der „Bürgergutscheine“ entschieden.
4Die hohe Bedeutung der Grundsätze, die dem Drei-Säulen-Modell vorangestellt sind, kann hier nur angedeutet werden. Eine Entfaltung dieser Grundsätze in einem eigenen Text, für den im Augenblick der Arbeitstitel „Theologische und ekkle-siologische Grundsätze des Drei-Säulen-Modells des Dietrich-Bonhoeffer-Vereins“ verwandt wird, soll demnächst in Angriff genommen werden.